Freitag, 22. Dezember 2017

"Des Lehrers Weihnachtsäpfel" - eine Weihnachtsgeschichte

Alljährlich zur Weihnachtszeit ließ unser Lehrer einige Körbe Äpfel in das Klassenzimmer bringen. Um diese Äpfel gab es unter den Schülern jeweils eine lustige Rauferei und der Lehrer stand lächelnd dabei und achtete dass niemand zu tatkräftig wurde. An dieser Spende war an und für sich nichts aus- zusetzten, nur wollte mir in der Erinnerung die Art der Verteilung nicht ganz gerecht erscheinen, denn der Fleißigste in der Klasse war meistens nicht der Stärkste und bekam deshalb nicht die schönsten Äpfel. Daran musste ich denken, als ich vor einiger Zeit den alten Lehrer, der längst im Ruhestand war, wieder sah.  
"Ja", sagte der Alte mit vielsagendem Lächeln, "mir geht es gut; und ihnen lieber Müller? Hoffentlich ist ihnen der Mangel an Konzentration, den ich leider immer wieder bei ihnen feststellen musste, nicht weiter hinderlich gewesen...?"
"Ich musste gerade an die Weihnachtsäpfel denken, die Sie uns damals bescherten", bog ich das Gespräch in andere Pfade.
"Ach, die Weihnachtsäpfel", erwiderte schmunzelnd der Alte und fuhr sich mit der Hand durch den weißen Bart. "Das war für mich jeweils ein interessantes Experiment. In diesem Apfelkorb schieden sich die Furchtlosen von den Ängstlichen, die Draufgänger von den Behutsamen, den Sanftmütigen und den Listigen, die Bescheidenen von denen die die Ellbogen einsetzten. Charaktere werden geboren, aber ich konnte die Erbanlagen zu beeinflussen versuchen. Ich konnte die Furchtsamen ermutigen, ihr Selbstvertrauen stärken und den Tatendrang  der Allzustürmischen in die rechte Bahn zu lenken versuchen."
"Der starke Scholz hatte die meisten Äpfel", wendete ich ein.
"Ja", sagte nickend der Lehrer, aber der kleine Schmitz hat sie ihm nachher auf dem Schulhof gegen ein paar wertlose Briefmarken abgeluchst. Er ist ins Bankfach gegangen der kleine Schmitz und hat Karriere gemacht. Der dicke Karl Weiß, der die Äpfel gleich alle verzehrte, hat das Geschäft von seinem Vater übernommen. Und wie geht es nun Ihnen, lieber Müller, was sind sie nun eigentlich geworden?"
"Ich bin noch nichts", entgegnete ich, "aber..."
"Na, sehn Sie", unterbrach er mich, mangelnde Konzentration, immer in "Wolkenkukuksheim", ich sagte es ihnen damals schon. Sie überlegten auch damals am Apfelkorb zu lange die rechte Angriffstaktik..."
"...aber ich bin im Urlaub hier", fuhr ich fort, "ich habe soeben meine Prüfung bestanden und kann nun Lehrer werden -
und das Experiment mit den Äpfeln werde ich mir wohl merken".                                
                                                              "Alpenländische Rundschau" 24. Dezember 1942  Bernd Berg
                                                                                                                           


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